Vermutlich könnte auch Lotte schon die Stadtführung übernehmen – so oft hat sie schon zugehört, wenn André Tomczak über Potsdam spricht. Doch Lotte, eine schon etwas ältere Labrador-Dame, ruht
sich lieber aus und blinzelt nur, als ihr Herrchen über diesen Ort und seine vielen historischen Schichten zu schwärmen beginnt. "Es ist Wahnsinn, was hier schon entstanden ist", sagt André
Tomczak.
Der 32-Jährige mit den dunklen Locken und der blauen Ray-Ban-Brille zeigt auf den Platz vor ihm, der wie eine römische Piazza wirkt. Rechts das Fortunaportal des Stadtschlosses, links die
Nikolaikirche, davor der Obelisk, geradeaus das Alte Rathaus, rechter Hand davon der Palast Barberini. Der Alte Markt von Potsdam, die historische Mitte, präsentiert sich beinahe wieder so, wie
sie noch Friedrich der Große gesehen hat.
Vor einem halben Jahrzehnt war dieser Platz zur Havel hin noch größtenteils eine Brache. André Tomczak ist häufig hier, stets mit Hund – einerseits als Stadtführer, andererseits als Mitinitiator
und Sprecher einer Bürgerinitiative mit dem Namen "Potsdamer Mitte neu denken", die Anfang April ein Bürgerbegehren startete. Tomczak, der in Berlin Architektur und Stadtplanung studierte,
sammelt dann Unterschriften gegen den Abriss dreier markanter Gebäude aus der DDR, die für ihn genauso dazugehören wie die Bauten von Knobelsdorff und Schinkel: die Fachhochschule direkt am Alten
Markt, der Wohnblock Staudenhof hinter der Nikolaikirche und das Hotel Mercure, ein Hochhaus auf der anderen Seite des Landtagsschlosses, einst ein Interhotel.
Aktivisten wollen Bürgerentscheid
Die Anti-Abriss-Aktivisten – laut Tomczak eine Mischung aus Alt und Jung, eingeborenen Potsdamern und Zugezogenen, Ost- und Westlern – sind höchst erfolgreich und haben innerhalb von drei Monaten
knapp 17.000 Unterschriften gesammelt. Das sind mehr als nötig, um zunächst eine Abstimmung im Stadtparlament zu erzwingen, danach auch einen Bürgerentscheid. Es wäre das erste wirkliche
Basisvotum der Potsdamer über die Pläne der Stadt. Seit 25 Jahren.
Mit dem Bürgerbegehren haben die Initiatoren offenbar einen Nerv getroffen. Es gab zwar etliche Beteiligungsverfahren mit Diskussionen, etwa als es um den langfristig geplanten Abriss des Hotels
ging – das einem Rasenstück weichen soll, großspurig „Wiese des Volkes“ genannt. Doch viele Potsdamer scheinen sich angesichts der rasanten Entwicklung ihrer Stadt nicht wirklich mitgenommen zu
fühlen, sonst würden sie kaum zu Tausenden unterschreiben.
Schon der Schloss-Neubau war umstritten, erst recht die Wiederaufbau-Pläne für die historisch belastete Garnisonkirche. Spätestens die Debatte um das Hotel, zu DDR-Zeiten ein begehrter Ort und
heute noch ein funktionierender Betrieb, brachte Schwung in den Protest. Sogar Ex-Ministerpräsident Manfred Stolpe, ein bekennender Preußen-Freund, wandte sich gegen die Abriss-Pläne. Es drücke
sich darin eine "Verachtung gegenüber den DDR-Plattenbauten" aus, sagte er überraschend scharf.
Spannungsreiches Ensemble
André Tomczak steht auf dem Alten Markt, blickt um sich und sagt, eigentlich sei die Entwicklung hier abgeschlossen. Der Platz ist wieder ganz, er kombiniert in einem spannungsreichen Ensemble
sanierte, wiederaufgebaute, historisierende und moderne Gebäude, mit je eigener Geschichte und Funktion. Die Fachhochschule etwa, in der immer noch Lehrbetrieb läuft, könnte nach den
Vorstellungen der Initiative zu einem öffentlichen "Haus der Gegenwart" entwickelt werden. Tomczak spricht von einem Innovationszentrum mit Platz für Wissenschaft, Kultur, Volkshochschule, mit
Cafés und begehbaren Dachgärten. Die Bürgerinitiative will jetzt nach Geldgebern suchen. Sogar die Stadtversammlung könnte hier tagen, sagt Tomcak. Platz genug ist da.
Das hätte allerdings eine ganz besondere Ironie. Denn die Mehrheit dieser Stadtversammlung, geführt von Oberbürgermeister Jann Jakobs (SPD), hat den Abriss der FH längst beschlossen. Im Herbst
2017 soll das vernachlässigte Gebäude verschwinden, um Platz zu machen für das „Leitbautenkonzept“.
Drei große Wohn- und Geschäftshäuser geplant
Zwischen dem Alten Markt und dem Platz der Einheit soll in ein paar Jahren wieder die Vorkriegsstruktur entstehen. Jedenfalls fast. Geplant sind drei große Quartiere mit Wohn- und
Geschäftshäusern auf den alten Grundstücken. Die Stadt hofft auf Millionen-Einnahmen und sucht Investoren. An mehreren Eckgebäuden soll es "Leitfassaden" nach historischem Vorbild geben, um
zumindest eine Anmutung des alten Zentrums wiederzugeben.
Die anderen Gebäude haben nicht ganz so strenge Vorgaben. Rund 40 Häuser sollen so entstehen mit insgesamt 600 Wohnungen, davon ein Drittel Sozialwohnungen, vor allem an der
Friedrich-Ebert-Straße. "Es geht um ein Stadtquartier für alle", sagt Oberbürgermeister Jann Jakobs.
Er ist nicht gut zu sprechen auf die Unterschriftensammlung der Abriss-Gegner. Die Stadt prüft bereits rechtliche Schritte, Jakobs befürchtet einen Stillstand in der Stadtentwicklung, wenn ein
Bürgerentscheid den Verkauf der Grundstücke verbieten sollte.
Die kriegs- und nachkriegsverwundete Stadt Potsdam entschied sich bereits 1990 für eine "behutsame Wiederannäherung an das charakteristische, gewachsene historische Stadtbild", wie es in dem
alten Beschluss heißt. Das gilt, mit Ergänzungen, Änderungen, Erweiterungen, im Prinzip immer noch. Auch wenn sich die Debatte in der Stadt längst gedreht hat. "Man kann die Diskussion nicht
immer wieder von Neuem beginnen", sagt Jann Jakobs.